Freitag, 15. Mai 2020:Tagesimpuls von Gabriele Althen-Höhn
„Was vermissen Sie am meisten?“ Befragt in den letzten Wochen der Kontaktsperre antwortet eine Frau: „… mein Enkelkind nicht sehen können!“ Ähnlich antwortet ein Patient eines Krankenhauses in Bergamo mit Tränen in den Augen. Ich stelle mir vor, wie freudig die Oma, der Opa immer begrüßt worden sind, umarmt und geküsst, wie eine kleine Kinderhand sich in die ältere Hand schiebt, wie gekuschelt wird beim Vorlesen, wie das Kind Fragen stellt und aufmerksam zuhört. Bei solchen Begegnungen kann man sich selber vergessen und ganz darin aufgehen, füreinander da zu sein. Die Sehnsucht der Älteren erzählt vom Vertrauen, von Geborgenheit und Frieden. Gleichzeitig wissen wir, wie brüchig diese Erfahrungen sind, wie schnell kleine Selbstverständlichkeiten verloren gehen. Vertrauen und Geborgenheit müssen gepflegt werden, brauchen einen geschützten Raum, besonders am Anfang des Lebens. Davon erzählt das Bild von Vincent van Gogh, Die ersten Schritte: Es ist Frühjahr, die Bäume blühen, der Garten ist noch nicht bestellt. Der Vater hat gerade die Schubkarre hergebracht, die mit Stallmist beladen ist. Währenddessen ist die Mutter mit dem Kind in den Garten gekommen; der Vater hat den Spaten beiseite gelegt. Er kniet, um auf Augenhöhe des Kindes zu sein, breitet die Arme aus. Noch ist das Kind bei der Mutter, braucht eine kleine Ermutigung, um die ersten Schritte allein zu laufen. Vincent van Gogh hat dieses Bild im Jahr 1890 gemalt einige Monate vor seinem Tod. Er gilt als ein Maler, der in den kleinen unscheinbaren Begebenheiten des Alltags und der Natur ein Gleichnis für die Schöpfung, für Gott sehen wollte. Vielleicht hat Vincent van Gogh eine Todesahnung gehabt und sieht sich im Tod Gott in die Arme laufen.